Wieso erscheinen offizielle Familienfotos eigentlich oft so, als ob sich jeder zum Zeitpunkt der Aufnahme unwohl gefühlt hat? Aufgestellt wie aufs Parkett geklebt und mit einem fragenden Gesichtsausdruck, als ob der Fotograf den Abgebildeten eben sagte: „Gleich kommt das Vögelchen“. Es geht doch wirklich besser!
Beth Yarnelle Edwards ist eine international erfolgreiche Fotokünstlerin. Die 1950 geborene Amerikanerin lichtet seit 1997 für ihr Projekt „Suburban Dreams“ Familien in ihren Eigenheimen ab – und kombiniert dabei die beiden essenziellen Ansätze der Familienfotografie: sorgfältig inszenierte Aufnahmen und die erzählende, spontane Bildreportage.
Beide Herangehensweisen haben ihre Daseinsberechtigung. Welcher Ansatz bei Ihren Aufnahmen besser passt, hängt von Faktoren ab wie der verfügbaren Zeit, den Wünschen der Familie und dem späteren Verwendungszweck.
Für Gruppenfotos bei Hochzeiten muss beispielsweise eine exakt definierte Familienkonstellation vor die Kamera gebracht werden, die sich innerhalb der dem Fotografierenden verfügbaren Zeit praktisch unmöglich in einer natürlichen Situation einfangen lässt. Und Großmutter möchte dann letztlich doch lieber die klassische Weihnachtskarte mit den lächelnd aufgestellten Enkeln auf ihre Kommode stellen, statt eines wild tobenden Durcheinanders. Andererseits wirken Gruppenporträts heute ziemlich aus der Zeit gefallen, wenn alle Abgebildeten aufgereiht wie die Orgelpfeifen nebeneinanderstehen. Statisch positionierte Personen mit gekünsteltem Grinsen erinnern eher an Schaufensterpuppen und Werbemotive und haben jegliche Natürlichkeit verloren.
Organisierte Spontaneität
„Ich bin eine Geschichtenerzählerin“, beschreibt Beth Yarnelle Edwards ihre Arbeit. „Statt gestellter Aufnahmen geht es in meinen Bildern um den Alltag einer Familie, statt einer Rechnung bekommen die Abgebildeten am Ende ein signiertes Foto. Die Grundbausteine meines Ansatzes sind Transparenz, Ehrlichkeit und die individuelle Interaktion.“ Vor ihrer Foto-Session trifft sich Beth zunächst mit den Familien, zeigt ihnen Bilder anderer Familien-Shootings und erklärt, worum es bei ihrem Projekt geht. Sie stellt bei diesen Vorgesprächen eine Menge Fragen. Fragen zur Familiensituation, zu den Abläufen und Routinen im Alltag. Nach Unterschrift eines Model-Release-Vertrags folgt ein Rundgang durchs Haus, oft verbunden mit ersten Schnappschüssen. Gemeinsam mit den Familien erarbeitet Beth dann aus ihren gesammelten Informationen die Idee einer repräsentativen Darstellung des Familienlebens, die im folgenden Shooting umgesetzt werden soll.
Am Tag der Aufnahme wird zunächst die gewählte Kulisse ausgeleuchtet, der gewünschte Bildrahmen gesetzt und die Akteure zu den ausgewählten Plätzen gebeten. Danach beginnt eine Phase der Improvisation. Einmal, zweimal, dreimal werden alltägliche Situationen durchlaufen, bis die in dieser Ausnahmesituation zunächst verlorengegangene Natürlichkeit ins Bild zurückkehrt.
Jede Porträt-Fotografin und jeder Porträt-Fotograf kann Beth Yarnelle Edwards Ansatz durchaus auch auf die eigenen Familienaufnahmen übertragen: Überlegen Dir eine Situation, in der Du die Familie ablichten möchten. Finde die Tageszeit mit den besten Lichtverhältnissen für Deine Aufnahmen, richte den Bildausschnitt ein, und dann lasse die Familie einfach spontan agieren. Bleibe hinter der Kamera aufmerksam und mache am besten per Serienbildfunktion stets mehrere Aufnahmen hintereinander. Wichtig: Eine ganze Familie in Aktion bewegt sich schnell, achte auf eine ausreichend kurze Verschlusszeit!
Reporter im Familienkreis
Wer lieber eine komplett natürliche Aufnahmesituation bevorzugt, der kann stattdessen eine Familie einige Zeit mit der Kamera begleiten. Renate Niebler, Fotografin und Dozentin an der Münchner Hochschule für Design, führt ihre Studentinnen und Studenten an die Fotoreportage heran und legt dabei deren Talent frei, Emotion und Atmosphäre einzufangen. Ihr Credo: Suche nach den Bildern, die auch entstanden wären, wenn Du nicht dabei gewesen wärst. „Die Umgebung sollte als Gestaltungselement wahrgenommen werden. Ich kann bei begleitenden Familienaufnahmen nicht bestimmen, wo ich bin, ich kann nur die Situation festhalten“. Genau diese Nicht-Steuerbarkeit macht für den Bildbetrachter später den Unterschied aus zwischen der quasi-realen Inszenierung von Beth Yarnelle Edwards und einer Reportage-Aufnahme. Wobei beide Herangehensweisen im Trend liegen – genreübergreifend, selbst bis zur Food-Fotografie, wie Renate Niebler berichtet.
Fazit der PHOTOPIA-Redaktion: Reduziere bei Deinem nächsten Familien-Shooting statische Aufstellungen auf ein Minimum und lege mehr Wert auf authentische Alltagsdarstellungen.