Emotionen vom Straßenrand

Warten, beobachten, schnell reagieren. Klick! Nächstes Bild. Gute Straßenfotografie findet und zelebriert den perfekten Augenblick. Die Meister dieses Genres zeichnen sich durch eine blitzschnelle vorausahnende Denke, gute Reflexe, ästhetisches, kompositorisches Gespür und Empathie aus. Wer hier Erfolg sucht, der mag sich als Poet oder Sozialreporter nähern. Er sollte jedoch stets am richtigen Ort die signifikanten Momente festhalten.

Fotos können uns bezirzen wie visuelle Poesie. Ganz besonders, wenn sie der Dynamik des Straßenlebens entrissen sind. Dann poppen sie in einem Glücksmoment in unser Leben wie Robert Doisneaus Bild gewordene Kuss zweier Liebender inmitten der Hektik des Pariser Straßenverkehrs. Street Photography ist in der Lage, uns Momente purer Lebensfreude zu schenken. Dann erzählt ein Schnappschuss etwa vom französischen „Joie de Vivre“ eines Radfahrers in der Provinz, der sich nachmittags für den Heimweg entlang der Landstraße ein Baguette quer auf den Gepäckträger seines Drahtesels gequetscht hat und gut gelaunt durch eine Allee strampelt. Fotos können uns aber auch aggressiv anpöbeln, wie etwa die Aufnahme jenes zähnefletschenden New Yorker Kindes, das eine Spielzeugpistole direkt auf die Linse des Fotografen richtet.

 

Die Alltagskünstler

Wenn uns Fotografieren immer ein wenig wie das Drücken der Pausentaste des Lebens erscheint, dann liefert die Straße dazu die täglich wechselnden Bühnenbilder. Der „Street Photographer“ ist eine Art Alltagskünstler, der jenen „entscheidenden Moment“ festhält, in dem sich die Dynamik der Straße zu einem guten Bild verdichtet. „Kein Filmregisseur kann das Unerwartete arrangieren, das du auf der Straße findest“, meinte einst der französische Fotopoet Robert Doisneau. Der individuelle Charakter eines Bildermachers kann der Straßenfotografie stets neue Impulse geben.

 

Bilder mit dem Geruch der Straße

Der amerikanische Fotoklassiker William Klein betont Wert eines erkennbar individuellen Ansatzes. Und empfehlt jedem Neueinsteiger: „Sei ganz du selbst!“ Lieber zunächst etwas unbeholfen knipsen, aber mit einer individuellen Note. Kleins New Yorker Kollege Bruce Gilden will bei der Street Photography förmlich den Geruch der Straße einbringen. Er nähert sich den Passanten wie ein Panther seiner Beute, schleicht um sie und schießt seine Bilder frontal, schonungslos aus unmittelbarer Nähe. So sind eindrucksvolle Porträts echter Charakterköpfe entstanden, die vielen vielleicht aggressiv erscheinen mögen, stets aber das Authentische, Echte im Menschen hervorkehren.

 

Duolog im Jetzt

„Bei der Straßenfotografie geht es darum, ganz im Augenblick zu bleiben. Ich liebe es, Menschen zu beobachten und das visuelle Wirrwarr einer geschäftigen Stadt für den Bruchteil einer Sekunde in einem Bild zusammenzubringen, während ich komplett in den Alltag eintauche“, sagt die in New York lebende Deutsche Nina Welch-Kling. „Das heißt, das JETZT einzufangen und zu dokumentieren.“ In Kürze erscheint im Kehrer Verlag ihr Bildband „Duologues“ (39,90 Euro), in dem sie ihre Straßenbilder in Dialog treten lässt und sich so neue ästhetische Assoziationsräume öffnen. Straßenfotografen fühlen für uns den Puls der Stadt. Sie sind die wahren Erben der Flaneure des 19. Jahrhunderts, sie lassen sich treiben, finden, staunen und fotografieren. Oder wie es Joel Meyerowitz, ein anderer großer Meister der Street Photography, formuliert: „Du füllst den (Bild)Rahmen mit Gefühlen, mit Energie, Entdeckungen und Risiken und lässt dabei genug Platz, damit andere Zugang finden.“