Thomas Wagner: Katz und Maus

Thomas Wagner überzeugte die NTA Jury 21/2 mit seinem Projekt „Katz und Maus“. In seinem Fotoessay stellt der Fotograf die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Bootsführer am Arauca-Fluß dar, der Kolumbien und Venezuela voneinander trennt.

Der deutsche Dokumentarfotograf hat ein besonderes Interesse an Lateinamerika und an Regionen, in denen staatliche Strukturen nicht oder kaum vorhanden sind.

Wagner wurde in Bernau, Ostdeutschland, geboren. Er war 13 Jahre alt als die Berliner Mauer fiel. Eine seiner lebhaften Erinnerungen ist, wie seine Familie zum ersten Mal die Grenze nach West-Berlin überquerte. Einige junge Westberliner sprachen ihn an und überreichten ihm eine kleine Plastiktüte voller D-Mark-Münzen. Das Geld sparte er, um sich seine erste gebrauchte Analogkamera zu kaufen. Diesen anonymen Helfern ist er bis heute dankbar.

Erst seit kurzem lebt Thomas Wagner wieder in Berlin, nachdem er mehrere Jahre in Bogotá und in Caracas verbracht hat. Seine Fotografien wurden von verschiedenen deutschen und internationalen Medien veröffentlicht, darunter DIE ZEIT, ZEITMagazin und The Miami Herald.

Bevor er Berufsfotograf wurde, arbeitete Wagner als Redakteur und Reporter bei der Deutschen Presse-Agentur (dpa) und bei der Agence France-Presse (AFP) in Deutschland sowie als Leiter der Kommunikationsabteilung der deutschen Entwicklungsagentur GIZ in Kolumbien.

Er hat einen Master-Abschluss in „Internationaler Zusammenarbeit und humanitärer Hilfe“ und einen M.A. in Kommunikations- und Politikwissenschaften und studierte Fotografie in Caracas. Thomas Wagner zu seiner Reportage „Katz und Maus“: „Es ist sechs Uhr morgens. Die Sonne spiegelt sich auf der Oberfläche des Arauca-Flusses, der Kolumbien und Venezuela voneinander trennt. Ein lang gestrecktes Motorboot überquert rasch die rund 500 Meter, die die zwei Ufer und Länder voneinander trennen. Währenddessen kommt in der Flussmitte ein venezolanisches Patrouillenboot angerast. Das Boot mit den Zivilisten an Bord ist schneller und legt auf kolumbianischer Seite an. Die drei Männer und eine Frau springen auf und rennen zu einer Baumgruppe oben auf der Böschung. Das venezolanische Marineboot schaltet den Motor ab und schaukelt in der Strömung. Eine halbe Stunde später gibt es auf und fährt weiter.

Dann erst trauen sich die Zivilisten aus dem Schatten der Bäume hervor. Sie laufen hinunter zu ihrem Boot und greifen mehrere Plastiksäcke. Sie zeigen mir den Inhalt, eingewickelt in alte Zeitungen. Es handelt sich um Hühnerfleisch und Fische, die sie, illegal aus Venezuela eingeführt, auf dem Schwarzmarkt der kolumbianischen Stadt Arauca verkaufen wollen.

Der Arauca-Fluss ist Grenzlinie und Lebensader zwischen Kolumbien und Venezuela. Er ist eine durchlässige Grenze, über die alles geschmuggelt wird, was zu Geld gemacht werden kann, von illegalen Einwanderern bis hin zu Benzin.
Die Bootsführer, die Canoeros, wie sie sich auf Spanisch nennen, sind das Rückgrat der informellen Wirtschaft in dieser abgeschiedenen Grenzregion. Sie und die Marine spielen Katz und Maus miteinander. Die Canoeros warten am Ufer, bis die Schiffe der Marine vorbeigefahren sind, dann jagen sie mit ihrer Ladung über die Wassergrenze.

Auf beiden Seiten des Flusses fehlt den Menschen die Perspektive. Der Schmuggel ist ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. Der illegale Grenzverkehr über das Wasser ging trotz Corona munter weiter. Viele der Passagiere, die von Venezuela hinüberkommen, haben nicht einmal Geld für einen Mundschutz. Die Arbeit der Bootsführer ist riskant. Schnappt man sie, verlieren sie ihre Ware und manchmal auch ihre Boote. Reich werden nicht die Bootsführer, sondern andere: die kolumbianische Guerilla, die für jeden Transport eine „Revolutionssteuer“ erhebt, korrupte Sicherheitskräfte, die Chefs der Schmugglerbanden.

Viele der Bootsführer leben in Brisas del Puente, einem Armenviertel von Arauca. In meinem Fotoessay stelle ich die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Bootsführer dar. Meine Arbeit dort war nicht ungefährlich, weil die Guerilla das Viertel kontrolliert. Ich wollte aber auch die andere Seite fotografieren, die des Staates. Es war nicht ganz einfach, die Erlaubnis des Verteidigungsministeriums zu bekommen, um eine Patrouille zu begleiten. Als ich sie dann hatte, waren die Offiziere von der Marinebasis aber sehr kooperativ. Einmal ging ich nach einer Patrouillenfahrt noch bei den Schmugglern vorbei. Die waren ziemlich sauer, weil die Armada an dem Tag unentwegt auf dem Fluss unterwegs gewesen war. Einer meinte zu mir: „Du warst doch heute mit einem Patrouillenboot unterwegs, oder? Ich habe dich vom Ufer aus gesehen.“ An dem Tag habe ich die Kamera erst mal bei Seite gelegt. Die Recherche leidet, erregt man zu viel Aufsehen.

Ich habe mehr als ein Jahrzehnt in Kolumbien und Venezuela gelebt. Beide Länder sind durch Gewalt, Drogenkriminalität und im Falle Kolumbiens sogar durch einen endlosen Bürgerkrieg geprägt. Illegalität und Legalität sind miteinander verwoben, so auch im Falle der Bootsführer. Es ist wichtig, die Schattenseiten einer Gesellschaft zu dokumentieren, die Ungerechtigkeit, die Armut, aber ich will nicht, dass der Betrachter die Hoffnung verliert. Darum fange ich in meiner fotografischen Arbeit im Hier und Jetzt gerne Momente einer nachhaltigen und solidarischen Zukunft ein und porträtiere Menschen, die innovativ sind und Nachhaltigkeit und Solidarität leben.

Ich fotografiere häufiger in Farbe. Im Falle der Serie über die Schmuggler von Arauca habe ich mich für Schwarz-Weiß entschieden, weil ich die Zeitlosigkeit von monochrom mag. Was ich am Arauca-Fluss erlebte, unterscheidet sich nicht groß von dem, was ein Zeitzeuge vor 30 Jahren hätte erlebt, und wird sich in den nächsten 30 Jahren, so befürchte ich, auch nicht groß ändern. Es gab noch einen zweiten Grund. Ich habe viel in den Wellblechhütten der einfachen Leute am Fluss fotografiert, in die kaum die Sonne eindringt. In Schwarz und Weiß betone ich das Spiel zwischen spärlichem Licht und reichlichem Schatten.“

New Talent Award

Zweimal jährlich bietet der von Canon und ProfiFoto in Kooperation mit der Bildagentur Laif und Whitewall ausgeschriebene New Talent Award Fotografinnen und Fotografen die Chance, bei der Umsetzung ihrer „Bilder im Kopf“ Unterstützung zu finden. Das aus dem >Canon Profifoto Förderpreis< weiterentwickelte Konzept öffnet den Wettbewerb für die zahlreichen Quereinsteiger in die professionelle Fotografie. Teilnehmen können alle, die professionell in der Fotografie oder artverwandten Berufsgruppen tätig sind, gleich welchen Alters und egal ob haupt- oder nebenberuflich. Die mit 3.000 Euro jährlich dotierte Auszeichnung wird alle sechs Monate von einer renommierten Jury an fünf Bewerber vergeben, deren fotografische Handschrift überzeugt und die mit ihren Konzepten neugierig machen auf mehr. Unter den insgesamt zehn Siegerarbeiten der jährlich zwei Wettbewerbs-Abschnitte ermittelt die Jury die drei besten Arbeiten. Diese erhalten Geldpreise in Höhe von insgesamt 3.000 Euro (1. Platz 1.500, 2. Platz 1.000, 3. Platz 500 Euro).

Weitere Informationen und Teilnahmebedingungen: www.profifoto.de